Das Paradox einer Kugel ist es, dass ihre Fläche endlich, ihre Oberfläche jedoch grenzenlos ist. Wie lassen sich universelle Fragen nach Grenzen und Unendlichkeit darstellen und mit welchen formalen Mitteln kann dieser theoretischen Auseinandersetzung begegnet werden? Die in New York lebende Künstlerin Alice Attie greift in ihrer ersten umfangreichen Einzelausstellung in der Galerie die simple geometrische Form eines Kreises auf, um damit eine komplexe, philosophisch-ästhetische Beschäftigung mit diesen Fragestellungen aufzufächern. Ihre von spielerischer Poetik getragenen Zeichnungen berühren Zeit und Raum, Naturwissenschaft und Philosophie, individuelles und kollektives Gedächtnis. Die kleinformatigen Tusche- und Buntstiftzeichnungen stehen mit ihren feinen Setzungen in reizvollem Kontrast zu den großen Dimensionen, zu denen sie sich öffnen. Die facettenreichen Darstellungen erhalten ihre Formen durch die Verdichtung und Wiederholung einzelner, gestisch gesetzter Striche oder streng geometrischer Anordnungen. Die Gebilde sind Träger von Informationseinheiten, von Buchstaben, Strichen oder fraktalen Formen, ihre Grenzen und Übergänge meist nicht eindeutig definiert. Victor Hugo zitierend, bemerkt Alice Attie, dass die Linie eine Geste der Untersuchung ist, die uns in die Unendlichkeit zieht. Der Kreis besteht aus einer unendlichen Linie, die sich beständig um sich selbst dreht. Für Attie ist es „…eine im Entstehen begriffene Form, ein mathematisches Rätsel. Der Kreisumfang begrenzt. Der Kreisumfang ist grenzenlos. Unser Planet. Eine Kugel. Unser Zuhause. Unser Leben, der Kreislauf von Werden und Vergehen. Das Zyklische.“
Der Blick für das Detail findet sich auch in Atties sechs kleinformatigen schwarz-weiß Fotografien. Aufgenommen mit einer Rolleiflex von 1937, rücken sie scheinbar Beiläufiges in das Zentrum unserer Aufmerksamkeit. Die Aufnahmen schemenhafter Landschaften gleichen einem zeichnerischen Gestus. Gräser, Pflanzen und Wasserwellen bilden feine Linien und Strukturen und formen Räume aus Licht und Schatten, die sich an einem spannungsreichen Übergang von Konkretem zu Abstraktem befinden. Laut Alice Attie „… lenkt die Kamera auf seltsame Weise unsere Aufmerksamkeit auf alles. Wir sehen, was wir sonst vielleicht nicht sehen würden. Wir geben Acht. Der Wind wehte und die Blumen neigten sich. Die bescheidenen Blumen. Das erste dieser Fotos, die sich auf die Stille, das Atemberaubende, das Erhabene beziehen, habe ich an einem windigen Sommertag im Norden Islands aufgenommen, die anderen dann an der italienischen Küste, im Norden des Bundestaats New York und im Central Park in New York City. Roland Barthes hat einen sehr tiefgründigen Gedanken über das Konzept der Kontingenz und des Zufalls in der Fotografie zu Papier gebracht. Er hat festgestellt, wie wir uns in dem wiederfinden, was wir sehen, in dem, was die Kamera uns hilft zu sehen. Dem Kontemplativen. Dem Intimen. Nähe und Distanz.“